Kapitel 1 – Über den See

Eigentlich war Biorn Olavson nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Der brummige Fischer hatte schon so manche Unannehmlichkeit ausgesessen, ohne, dass es ihm irgendwie zum Nachteil gereicht hätte und gerade erst vor einer Woche hatte er einen Trunkenbold im „Salzfass“ davon abgehalten eine Dummheit zu begehen, indem er sich einfach beruhigend auf ihn drauf gesetzt hatte.
Doch heute war Biorn ein wenig unruhig und er wusste nicht genau warum. Er hatte aber natürlich eine Ahnung, dass sein ungewöhnlicher Zustand mit seiner ungewöhnlichen Situation zusammenhing. Vor einem Mond war ein Handelsmann aus dem Süden, Ramesh Isaca Al Imani, an ihn herangetreten und hatte ihm eine hübsche Summe Geld dafür geboten, dass er ins Avis-Mark reisen und ein Relief finden sollte.
Sowohl der exotische Händler als auch die Aussicht, so fernab seiner Heimat zu reisen, sorgten für ein anregendes Kribbeln in Biorns Fingern – und er fragte sich, ob er das gut oder schlecht finden sollte.

Die warmen Strahlen der Frühjahressonne fielen auf das flache Grasland das südlichen Kaltbergens und wärmten die vom Winter noch kalte Erde. Vögel zwitscherten in den kleinen Baumgruppen und kleine Nagetiere huschten auf der Suche nach Nahrung für ihren Nachwuchs durch die Wiesen. Das Wasser des Fjordsees glitzerte verführerisch und eine leichte Brise trug den Geruch des Meeres von westwärts herbei.
Biorn schulterte seine Tasche, die er mit Proviant, Kleidung, einer Decke sowie einer feinen Lederhaut und einem Kautereisen vollgestopft hatte, befestigte sein großes Messer an seinem Gürtel und warf sich einen Fellmantel über die Schulter. Er verabschiedete sich von der drahtigen aber warmherzigen Ivanna, der Frau, bei der er sein Zimmer für die letzten Jahre bezogen hatte, warf einen letzten Blick auf das Haus und ging dann zum Hafen. Er bestieg sein Boot und verstaute seine Reisetasche unter der Plane. Er setzte sein kleines Segel und ließ sich auf den See hinaustreiben. Das Kribbeln in seinen Fingern wurde stärker und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Diese Aufregung war gut.

Biorns Magen knurrte, als er am Abend sein Lager in einem kleinen Bootsschuppen bezog, der am östlichen Seeufer gelegen war. Der Wind hatte im Laufe des Tages noch zugenommen und Biorn war weiter gekommen, als geplant, allerdings hatte die Arbeit am Steuer seine Aufmerksamkeit verlangt, so dass er nicht zu mehr, als einem kleinen Happen gegen Mittag gekommen war. Nun also entfachte er sich ein kleines Feuer und grillte sich einen der gepökelten Lachse, die er für diese Reise gemacht hatte. Zusammen mit einer Scheibe Brot und einer Prise vom teuren Pfeffer mundete es ihm ganz hervorragend und er ließ sich glücklich in sein Nachtlager sinken. Ein Schluck Rum war seine Belohnung für diesen mühevollen Tag.
Mit dem Untergang der Sonne kroch die Kälte des Winters wieder aus dem Land hervor, wie Wasser, das nach der Ebbe zurückkehrt und der Fischer wickelte sich fest in seiner Decke, um ihr keine Angriffsfläche zu bieten. Als ihm die erschöpften Augen zufielen, hatte er vergessen Holz für die Nacht auf das herunter brennende Feuer zu legen.

Es konnte noch nicht lange sein, dass er geschlafen hatte, da erwachte er plötzlich. Ein kratzendes Geräusch drang von der Tür des Schuppens zu ihm her und mit einem Mal saß Biorn aufrecht auf seiner Decke und hielt sein Messer in der Hand. Waren die Wölfe des nahen Waldes herbeigekommen, als sie gesehen hatten, dass das Feuer verlosch? Hofften sie vielleicht auf leichte Beute? Der Winter war streng gewesen und sicherlich waren sie hungrig.
Das Feuer war komplett herunter gebrannt und das Ersatzholz war zu klamm, um es jetzt noch in Gang zu bringen – ein zweites Feuer zu entfachen kam also nicht in Frage.
Das Kratzen an der Tür verband sich nun mit einem Jaulen und schon bald hörte er mehrere Körper, die ungeduldig gegen die Tür rammten, um sie aus dem Weg zu brechen.
Biorn Olavson wäre kein echter Kaltbergener gewesen, wenn ihn ein Wolfsangriff aus der Ruhe gebracht hätte: Er packte seine Sachen zusammen, schlang die Tasche auf seinen Rücken und wickelte die Decke um seinen linken Arm. Das Messer in der Rechten postierte er sich vor der Tür, die in diesem Moment drohte, nachzugeben.
Mit einem Tritt hob er den Balken aus der Halterung und die Tür sprang auf. Drei große Wölfe drangen ungestüm herein und schnappten wie wahnsinnig nach ihm. Er hatte Recht gehabt: Im klaren Mondlicht sah er deutlich ihre Rippen unter dem grauen Fell. Doch sein Mitleid hielt sich in Grenzen.
Der erste Wolf, der auf ihn zusprang verbiss sich sogleich in dem Mantel und wurde von einem donnernden Schlag mit dem Knauf des Dolches betäubt. Schlaff sank er zu Boden. Doch Biorn ließ ihm keine Verschnaufpause und schleuderte ihn seinen Gefährten entgegen. Der zweite Wolf, der gerade hinterdrein springen wollte, duckte sich zur Seite weg. Doch der dritte Wolf – vom Hunger völlig wahnsinnig, wie es schien – schnappte sofort zu und riss ein Stück sehniger Haut aus seinem betäubten Kollegen.
Einen Moment von diesem Anblick abgelenkt, spürte Biorn plötzlich einen brennenden Schmerz in seinem rechten Oberschenkel. Der zweite Wolf hatte sich mit einem beherzten Satz darauf gestürzt und mit Leichtigkeit durch den Stoff der Hose gebissen. Ohne viel Federlesens trennte Biorn den Kopf des Tieres vom Rumpf und öffnete den verbissenen Kiefer mit der Klinge des Messers.
Doch nun begann die Wunde zu bluten und der Fischer spürte, wie der Schmerz ihn betäubte und verlangsamte.
Mit einem Tritt den letzten Wolf außer Gefecht setzend schleppte er sich zum Boot und ließ sich dort entkräftet auf die Sitzbank fallen. Er goss etwas Schnaps auf die Wunde und verband das Bein so gut und fest er konnte. Dann wickelte er sich erneut in seine Decke und rollte unter die Bootsplane. Hier würde ihn kein Tier finden.

Am nächsten Morgen erwachte er mit den ersten Sonnenstrahlen und fühlte sich, als hätte Ivanna ihn durch die Mangel gedreht. Sein Bein war geschwollen und taub, aber wenigstens schien es sich nicht entzündet zu haben. Trotzdem war er halb erfroren und begrüßte die wärmenden Strahlen der Sonne mit einem wohligen Seufzen.
Mit etwas steifen Bewegungen machte er das Boot los und begann dann die mühevolle Fahrt durch den Fjordsfleet stromaufwärts in Richtung Iisport. Es konnte gar nicht viel schlimmer werden.

Kapitel 2 – Iisport

Obwohl weiterhin eine leichte Brise von Westen her wehte und das Segel der Seekrone füllte, benötigte der Fischer aus Fjordenport, der sich mittlerweile mehr wie ein Abenteurer fühlte, zwei ganze Tage, bis er schließlich die Hauptstadt des Landes erreichte. Der Gedanke, er sei ein Abenteurer war weniger mit heroischen Vorstellungen als vielmehr mit den traurigen Gestalten verbunden, die regelmäßig völlig geschunden im Salzfass auftauchten und behaupteten, sie seien Abenteurer und auf der Suche nach einem Schatz oder einem Schurken und im schlimmsten Fall sogar Beides auf einmal. Genau so fühlte sich Biorn an diesen Tagen, während derer er gegen den Fjordsfleet an ruderte und ständig das Gefühl hatte, beim nächsten Ruderstreich würden ihm die Arme aus den Schultern reißen. Sein taubes Bein heilte zwar langsam, bildete dabei aber zunächst eine empfindliche Kruste aus, die juckte und brannte.

Doch der Anblick von Iisport entschädigte ihn für alle Unannehmlichkeiten der Reise: Die Stadt war größer als Fjordenport, es gab Tempel aller vier Brüder und sogar eine Kapelle des Helwart. Auf dem Markt herrschte reges Treiben und am Hafen lagen viele und große Schiffe vor Ort.
Der beeindruckendste Anblick jedoch war das Schloss des Königs, dass die gesamte Stadt überragte: Der dunkelrote Stein der Mauern schimmerte im Abendrot und gerüstete Wachen marschierten davor in Formation.
Des Abends ging Biorn, halb schlendernd halb humpelnd, durch die Straßen und Gassen der Stadt, während sein Boot vom kalten Fjordsfleet in den etwas wärmeren Eisnbach übersetzt wurde. Zwar führten beide Flüsse ihn nach Norderstett, doch so lange es ging, würde er den Weg durch die Taiga dem durch das ewige Eis vorziehen.
Im Gasthaus „Zur Eisflosse“ nahm er sich ein Zimmer für die Nacht und genoss es, nach Tagen der Reise wieder einmal eine Nacht im Warmen zu verbringen. Am Morgen besuchte er noch den Vialistempel, wo man sich seiner Verwundung – für eine kleine Spende versteht sich – mit göttlichem Beistand annahm, ging zum Fischmarkt am Hafen, wo er für den größten Teil seines Reisegeldes weiteren Proviant einkaufte und bestieg schließlich wieder sein Boot, um die Fahrt in Richtung Norderstett zu beginnen.
Ein lauer Wind wehte jetzt im Frühjar von Süden her und trieb ihn den Fluss hinauf, so dass er weniger Kraft und Mühe in sein Fortkommen investieren musste. Allerdings war der Eisnbach auch viel stärker befahren als sein nördlicher Bruder, so dass Biorn stets achtsam am Ruder sitzen musste, um nicht mit einem der anderen Handelsboote oder Fischkutter zusammenzustoßen.

In seinen Fingern kribbelte es jetzt wieder aufgeregt und er konnte sich gar nicht sattsehen an den Schiffen und Händlern, den Tieren und Blumen, den Bergen und Wäldern. Er konnte jetzt verstehen, warum es in der Hymne Kaltbergens hieß, dass man unter diesem Land begraben sein wolle – strahlte es doch eine so große Magie aus, wenn man es nur erblickte.
Am ersten Abend dieses zweiten Teils der Reise kehrte er in eine kleine Gaststube am Ufer des Flusses ein. Er befestigte sein Boot neben einigen Anderen, die an dem langen Steg festgemacht waren, und betrat die „Iisschenk“.
Im inneren des kleinen Hauses war es warm, laut und lustig: Flussschiffer aus Iisport verzechten ihren letzten Lohn und jene von weiter nördlich kippten den kühlen Rum in Vorfreude auf die Geschäfte in der Hauptstadt. Es wurde gesungen, gelacht und geweint, während Biorn sich mit großen Augen durch die Menge in Richtung Bar schob.
Der kleine, leicht dickliche Wirt beäugte ihn neugierig und brüllte dann durch den Lärm: „Neu hier?“. Woraufhin Biorn sich nicht ganz sicher war, was er erwidern sollte. Da er aber sicherlich noch nie hier gewesen war, antwortete er beflissen mit einem lauten: „Ja!“. Und fügte dann hinzu: „Ich hätte gern ein Bier und ein Zimmer für die Nacht.“. Der Barmann schüttelte verständnislos seinen Kopf und brüllte zurück: „Ein Tier, das immer wieder lacht?“. Biorn grinste angesichts des Missverständnisses und wiederholte seine Aussage. Er deutete dabei auf das Bier seines Nebenmannes und legte dann seinen Kopf auf die flachen Hände, um seinen Worten eine anschauliche Note zu verleihen.
Der Barmann nickte verstehend, ging zu Biorns Sitznachbarn und goss einen großen Schluck Schnaps in dessen Bierkrug, woraufhin der Sitznachbar Biorn begeistert zuprostete und den Krug in einem Zug leerte. Sofort wurden seine Augen glasig und er begann Biorn hingebungsvoll auf die Schulter zu sabbern, in dem Versuch ihm zu erklären, wie selten man so formidable Kumpanen treffe.
Der Fjordenporter Abenteurer war unterdessen ziemlich genervt von der Situation und deutete deswegen nochmals auf sich und imitierte wieder ein Kopfkissen mit seinen Händen, während er dem Wirt immer wieder „Schlafen!“ zubrüllte.
Der Wirt sah ihn an, als wäre ihm gerade ein Licht aufgegangen und deutete dann auf ein Schild, dass hinter der Bar befestigt war. Da Biorn weder lesen noch schreiben konnte, machte er eine fragende Geste zum Wirt, der nur grinsend die Hand aufhielt.
Zerknirscht – und auf der linken Schulter und Gesichtshälfte mittlerweile ziemlich feucht – zählte Biorn vier Kupfermünzen in die Hand des Mannes. So viel hatte er gestern noch in Iisport gezahlt, das sollte in diesem Schuppen wohl für ein Zimmer und den Schnaps genügen. Doch der freche Wirt lächelte ihn nur weiter an und hielt die Hand geöffnet.
Ungläubig zählte Biorn ihm eine weitere Münze in die Hand. Doch als der Wirt immer noch keine Anzeichen machte, dass die Schuld nun beglichen sei, beschlich Biorn das Gefühl, dass er hier gar nicht schlafen wollte.
Er versuchte, sich seine Münzen zurück zu nehmen, doch die Hand des Alten schloss sich blitzschnell und verbargen die Münzen wie einen Schatz. Die Augen verengten sich zu bösen Schlitzen und mit der freien Hand läutete er eine kleine, helle Glocke, die hinter dem Tresen befestigt war.
Schlagartig wurde es ruhig im Lokal und Biorn spürte, wie mehrere starke Hände ihn packten und zur Tür zu schleifen begannen. Zu seinem Überraschen sah er seinen – eben noch so betrunkenen – Sitznachbarn an seiner Linken mit sehr verschlossenem und ernstem Blick ihn wegführen. Es ging alles so schnell, dass er erst auf den Gedanken kam, sich zu beschweren, als er schon vor der Tür stand. Lautstark brüllte er die Männer an, sie sollten ihn loslassen und ihm sein Geld zurückgeben. Doch sie blieben völlig unbewegt und als er versuchte, sich aus ihrem starken Griff zu befreien, versetzten sie ihm einen Schlag, dass es ihm kurz schwarz vor Augen wurde und sein Kopf zu dröhnen anfing.
Kurz darauf ließen sie ihn in die kühle Nacht fallen und – nachdem sie ihn noch ein paar Mal heftig in die Rippen getreten hatten – zogen sich wieder zurück.

Als Biorn wieder zu sich kam, pochte sein ganzer Körper mit heißem Schmerz. Er rappelte sich mühsam auf und humpelte zu seinem Boot, wo er sich wieder einmal in seinen Decken und die Plane rollte und auf einen gnädigen Schlaf wartete, der ihn alsbald übermannte. Sein letzter Gedanke war, dass er jetzt wirklich ein Abenteurer sei.

Kapitel 3 – Norderstett

Auch wenn ihm am nächsten Morgen der Schädel noch brummte, als hätte er selber zu viel vom guten Rum genascht, waren die Schmerzen doch bald vergessen – wenn auch nie die Schmach, die ihm in dieser Nacht zuteil geworden war. Biorn hisste beim ersten Morgengrauen sein Segel und versuchte so schnell wie möglich von der Iisschenk wegzukommen.
Und tatsächlich waren die Winde ihm wohl gesonnen und er kam zügig voran. Er meinte gelegentlich Gelächter auf den Booten hinter sich zu hören, doch wenn er sich umsah, konnte er keinen Körper zu der Stimme finden. Beim überprüfen seiner Vorräte am Mittag musste er feststellen, dass die Halunken vom vorherigen Abend ihn nicht nur seiner Ehre sondern auch all seiner Münzen beraubt hatten. Zwar hatte er genügen Proviant, um bis Kaltbergen zu fahren, doch dort würde er sich wohl erst ein paar Münzen verdienen müssen, um den Rest der Reise zu bezahlen.

Als er drei sonnige Tage später die dichten Nadelwälder von Norderstett passierte und schließlich an dem kleinen Port unweit der Stadt festmachte, gingen seine Vorräte tatsächlich zur Neige. Doch das Glück sollte ihm hier wieder hold sein: Ein Händler trat bei seiner Ankunft an ihn heran und fragte nach dem Zeitpunkt seiner Rückfahrt. Als Biorn erwiderte, er werde wohl in ein oder zwei Wochen wieder über Iisport nach Fjordenport reisen, funkelten die Augen des Mannes. „Wenn sie dann bereit wären mich und eine kleine Fracht mit sich zu nehmen, zahle ich ihnen eine Silbermünze am Tag!“, rief er freudig erregt.
Sie gingen den Handel sofort ein und Biorn erhielt die ersten zwei Tageslöhne im Voraus, womit er sich genug Vorräte für eine Woche im Avis-Mark leisten konnte. Sobald das Boot sicher in einem Schuppen vertäut war und er sich reisefertig gemacht hatte, brach Biorn auf in das große eisige Gebirge des Nordens.

Auch wenn der Frühling im Süden bereits Einzug gehalten hatte, war im Avis-Mark nur wenig davon zu spüren: Zwar schien die Sonne des Tages hell und bisweilen auch wärmend auf die weiten, weißen Flächen, doch war das ewige Eis hier nicht zum Rückzug zu bewegen und gerade die Nächte brachten eine beißende Kälte mit sich, die der junge Abenteurer so noch nie erlebt hatte. Auch gab es hier nur wenige kleine Sträucher und überhaupt kein richtiges Holz, um kleine Feuer die ganze Nacht brennen zu lassen. So beschied er sich damit, sich stets den unzugänglichsten Schlafplatz zu suchen und dort – mit dem Messer griffbereit in der Nähe liegend – einen unruhigen Schlaf zu pflegen, um keiner eventuellen Bedrohung zum Opfer zu fallen.

Zwei Tage brauchte er, um von der Waldgrenze nördlich von Norderstett bis zu der Steilwand des Gebirges zu gelangen, die Ramesh in seinem Brief beschrieben hatte. Die Reise zehrte an ihm und er musste sich zu jedem Schritt durch den zähen Schnee zwingen, um sich nicht einfach an Ort und Stelle der Erschöpfung hinzugeben. Mittlerweile war es fast gleich, ob er sein Messer griffbereit hielt oder nicht: Er würde keinem entschlossenen Gegner einen Kampf bieten können, so ermattet war er.
Doch glücklicherweise verlief seine Reise ereignislos und er konnte wie geplant mit der Untersuchung der Steilwand beginnen.

Zu seiner großen Enttäuschung allerdings konnte er weder die Zeichen finden, von denen Ramesh geschrieben hatte, noch konnte er überhaupt irgendwelche Besonderheiten an dem Felsen entdecken. Er suchte einen ganzen Tag lang jeden Zentimeter der Wand ab und nahm sich dann am Abend vor, am nächste Tag ein Stück an der Wand hinaufzuklettern und dort seine Suche fortzusetzen. Doch er war sich jetzt schon sicher, dass er dort nichts finden würde. Vielleicht sollte er seine Suche woanders fortsetzen? Vielleicht hatte Ramesh sich vertan – immerhin war auch er noch nie hier gewesen. Was bildete dieser Surabadianer sich überhaupt sein, ihn hier durch den Schnee zu scheuchen?
In seinen tauben Fingern spürte Biorn gerade kein aufgeregtes Kribbeln mehr. Nur noch die Kälte, die ihn jeden Tag umgab. Er hatte die ganze Reise über gehofft, hier auf ein seltenes und aufregendes Schauspiel zu treffen – er war die ganze Zeit sicher gewesen, dass er hier Teil von etwas Größerem werden würde. Doch nun stand er den ganzen Tag vor einer grauen Wand und fror.

Er stapfte missmutig durch den Schnee, um sich ein wenig aufzuwärmen, bevor er sich ein seine Decken rollte, da sah er auf einem entfernten Bergrücken ein Leuchten. Überrascht blieb er stehen und blickte zu diesem unerwarteten Boten intelligenten Lebens so weit außerhalb aller bewohnten Grenzen. Vielleicht würde er dort etwas finden, das ihn auf die Spur der Zeichen brachte? Vielleicht war dort sogar schon Jemand dabei die Schriftzeichen abzuzeichnen und würde ihn eine Abschrift machen lassen? Aufgeregt hechtete Biorn zurück zu seinem Lager, in der Absicht, noch jetzt seine Reise zu diesem Licht zu beginnen.
Er war gerade dabei seine Tasche zu verschnüren, als er hinter sich – viel zu nahe und deutlich, um Einbildung zu sein – Schritte im Schnee hörte. Doch wie konnte das sein? Wer lief hier herum und wie hatte es sich so nah an ihn heranschleichen können? Doch am wichtigsten: War es ein friedlicher Wanderer, ein verzweifelter Räuber oder gar ein wildes Tier? Er würde es auf jeden Fall nicht darauf anlegen.

Mit einer schnellen Drehung wirbelte Biorn herum, das Messer hielt er blitzschnell in der Hand. Doch mit diesem Anblick hatte er nicht gerechnet: Ein Hüne von Mann stand vor ihm, über zweieinhalb Schritt groß und in Felle gewickelt. Ein wilder, langer Bart reichte vom Gesicht bis zum Bauch und in seinen Händen hielt er eine gewaltige Waffe, die einer Axt ähnelte, jedoch anstelle eines Axtblattes das Horn oder den Stachel eines riesigen Tieres trug. Dieser Wilde stürmte heran und hieb mit seiner schweren Waffe geradewegs nach dem Kopf des jungen Abenteurers. War dieser als Fischer doch mit blitzschnellen Reflexen geschult, schaffte er es gerade noch dem Hieb auszuweichen, konnte aber in seiner Überraschung nicht zum Gegenschlag ansetzen.
Mit Mühe schaffte er es einem weiteren Hieb auszuweichen, doch dann stolperte er über seinen Seesack und der kurze stumme Kampf endete mit dem krachenden Geräusch von Horn auf Schädelknochen.

Kapitel 4 – Blut

Biorn existierte nur noch in einem dunklen, pochenden Schmerz. Er wusste nicht, wo sein Körper aufhörte und wo der Schmerz anfing. Wenn das überhaupt jemals einen Unterschied machte. Er versuchte zu schreien, doch seinen Lippen entfloh kein Laut. Er versuchte sich aufzurichten, doch kein Muskel gehorchte ihm. Alles pochte.

Bumbum. Bumbum.

Er wusste nicht, wie lange er schon so gelitten hatte, als ein neues Gefühl in dieses Asyl der Schmerzen drang: Kälte. Eisige, beißende, schneidende Kälte. Für einen kurzen Augenblick war es sogar angenehm, wie die Kälte die Hitze des Schmerzes hinweg spülte, doch dann obsiegte erneut der Schmerz und an die Stelle frischer Abkühlung trat das weiße Feuer des Frostes, das an seiner Haut zu nagen begann. Und immer noch pochte es in seinem Kopf.

Bumbum. Bumbum.

Als nächstes traten die Geräusche wieder an ihn heran: Wie durch Wasser hörte er eine dumpfe Stimme zu sich heran dringen. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte – aber er hätte ohnehin keinem Gedanken folgen können. Langsam lichteten sich die akustischen Schleier und er hörte noch mehr Geräusche. Da war die tiefe, kehlige Stimme aber da war noch mehr: Das Knarzen von Füßen auf Schnee, ein raues, schleifendes Geräusch wie Holz auf Stein und das Pfeifen des Windes in der Klamm. Es pochte nicht mehr ganz so laut in seinem Kopf.

Bum. Bum.

Mit einem angestrengten Keuchen schlug er die Augen auf und brauchte einen Moment, bis er etwas erkennen konnte. Die Morgendämmerung lag bereits einige Stunden zurück und das zarte Licht des neuen Tages fiel auf eine schreckliche Szenerie: Der riesige Hüne stand, mit erhobenen Händen in Richtung der Felswand ausgestreckt, einige Meter vor ihm und brüllte unablässig wilde Worte in den Wind. Auch jetzt noch konnte Biorn sie nicht verstehen, doch er hörte immer wieder ein Wort, das wie „Artuuch“ klang. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Hüne ihn gegen die Felswand gelehnt hatte.
Viel beängstigender aber noch, als der Hüne selbst, war das, was der Wind mit ihm anstellte: Der fliegende Frost, der in die Klamm sauste, bildete eine Wolke um den Barbaren und formte aus kleinen Eissplittern Flügel am Rücken des Mannes und Krallen an seinen Händen.
Da geschah es mit einem plötzlichen Ruck, dass der Mann sich in die Höhe stieß und mit kräftigen Schlägen seiner Flügel in Richtung des Wolkenturmberges davon flog. Biorn wollte sich erheben, wollte rufen, flehen, rennen, kriechen und verstecken – doch nichts davon war ihm möglich.
Er schaffte es, sich ein winziges Stückchen zu erheben, da verließ ihn erneut alle Kraft, die der Schreck ihm gegeben hatte, und er sackte kraftlos seitlich zusammen.

Bum.

Ein tiefes, donnerndes Grollen weckte ihn wenig später erneut. Es schien aus der Richtung des Wolkenturmberges zu kommen, doch das konnte und wollte er jetzt nicht Erfahrung bringen. Erneut sammelte er alle Kraft, die er noch in sich fand, und rappelte sich auf. Sofort wurde ihm schwindelig und schlecht, doch er riss sich zusammen und stütze sich nur stöhnend an der Wand ab. Mit schwachen, schwankenden Schritten stolperte er zu seinem Seesack, der nun halb unter Schnee verborgen war, zerrte ihn heraus und wandte sich fort von hier. Nichts als weg von hier. Er war einfach nicht zum Abenteurer geboren.
Nur wenige weitere Schritte zeigten ihm jedoch auf, wie desolat sein Zustand tatsächlich war: Völlig entkräftet ließ er sich an einem Felsblock herabrutschen und vermochte keinen weiteren Schritt mehr zu tun. Wenigstens saß er halb in der Sonne und konnte seine gefrorene Haut wärmen. Mit tauben Fingern fischte er nach seiner Decke und wickelte den Rest von sich darin ein. Ein Schluck Rum und ein paar Bissen Fisch machten ihn zwar auf einen wackelnden Zahn aufmerksam, stärkten ihn jedoch auch wieder ein bisschen.
Er wollte sitzen bleiben, bis er erneut genug Kraft für ein Stück des Weges gefunden hatte. Mehr konnte und wollte er im Augenblick nicht tun. Fahrig glitt sein geistesabwesender Blick durch die Landschaft. Suchte über und unter der Felswand nach Feinden oder Aastieren, die seiner vielleicht harrten. Da fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: Die Felswand, gestern noch glatt und grau, war nun überdeckt mit feinen, dunkelroten Schriftzeichen. Sie waren ihm noch fremder als die ohnehin schon komplizierten Buchstaben der Handelssprache, doch ihm war sofort klar, dass es sich hierbei um die Zeichen handelte, nach denen Ramesh suchte.
Ein wenig zu begeistert suchte er in seinem Beutel nach der Lederrolle und dem Kautereisen. Von plötzlicher Übelkeit geschüttelt erbrach er sein gerade verzehrtes Essen über seine Hose und fluchte leise, während er sich zu orientieren suchte.
Mit etwas Geduld schaffte er es dann doch die Utensilien bereit zu legen und das Kautereisen mit einem Glutträger zu erhitzen. Dann kratzte er sorgfältig die fremden Zeichen auf das Leder und verstaute es anschließend wieder sorgfältig ein seiner Tasche. Die Zeit war schnell vergangen, doch zumindest hatte auch er wieder etwas Kraft gesammelt, und wagte einige tastende Schritte in Richtung des Waldes von Norderstett, den er am Horizont noch erahnen konnte. Trotz seines großen Schwindels vermochte er einige hunderte Schritte bis zur Dämmerung zu machen und errichtete dann ein einfaches Lager im Schutz einiger spröder Sträucher.

Als er am nächsten Morgen erwachte, war dies durch das Stimmengewirr von mehreren Menschen. Aufgeregt riefen sie etwas und schienen ihm ganz nah zu sein. Wenn dies gleich mehrere dieser Barbaren wären, sollte er besser gar nicht erst die Augen öffnen, sondern einfach weiter in seiner Traumwelt verbleiben, bis sie seinem Leben ein plötzliches Ende bereitet hatten.
Doch das war einfach nicht seine Natur und so griff er nach seinem Messer und öffnete die Augen, um die Ankömmlinge angemessen begrüßen zu können.
Doch es handelte sich gar nicht um weitere Wilde sondern vielmehr um eine Gruppe von Jägern, die gerade dabei waren, sich durch die Büsche zu ihm durch zu schlagen. Sie hatten eine Trage dabei und hievten ihn da hinauf, um ihn dann wieder aus dem Gesträuch zu tragen.
Dankbar ließ der müde Abenteurer dies alles mit sich geschehen. Und, auch wenn er nur mit grunzenden oder keuchenden Lauten antworten konnte, die Männer und Frauen erzählten ihm, dass sie eine große Lawine hatten niedergehen sehen und von einem einsamen Fremden gehört hatten, der sich hier verlaufen haben könnte. Es war in Norderstett Ehrensache, dass Niemand in den Bergen zum Sterben gelassen wurde, weswegen sie sofort aufgebrochen waren, um nach ihm zu suchen.
Den größten Teil der restlichen Reise verschlief Biorn und das erste Mal, dass er wieder bewusst zu Kräften kam, befand er sich im Avis-Tempel von Norderstett, einen dicken Verband um den Kopf und merkwürdig gekräftigt und erfrischt.
Ein lächelnder Mönch beugte sich über ihn und stellte sich als Bruder Tarik vor. „Ihr habt wirklich großes Glück gehabt, mein Freund. Noch ein wenig später und wir hätten euch nicht mehr retten können. Auch war es euer Glück, dass ihr so viel Blut verloren habt, so dass eure Spur die Jäger direkt zu eurem Versteck führte. Avis selbst muss über euch wachen.“
Eine Spur aus Blut? Plötzlich und wie mit einem Eimer kalten Wassers übergossen überkam Biorn die klare Erkenntnis, dass die blutroten Schriftzeichen an der Felswand ihre Farbe von seinem Blut hatten.
Ein wenig atemlos erzählte Biorn dem Bruder seine Geschichte, doch dieser lächelte nur und versicherte ihm, dass die Barbarenstämme von Kaltbergen sich nie – und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit – in dieser Höhe herumtrieben. Er musste nach einem Steinschlag halluziniert haben. Die Wunde an seinem Kopf sprach da Bände. Die Narbe über dem rechten Auge würde er wohl für immer behalten, da konnte auch der Segen der Götter nichts mehr retten. „Aber ihr seht damit sehr verwegen aus“, versicherte Tarik grinsend und wandte sich dann seinen anderen Pflichten zu.
Biorn war zwar unzufrieden damit, wie der Mönch mit seiner Geschichte umgegangen war, doch letztlich war ihm seine Unwissenheit wohl lieber. Er selbst hätte die Unwissenheit auch vorgezogen, verfolgte ihn doch jetzt noch manchmal im Traum der Hüne mit seiner grausamen Waffe, eisige fliegende Wesen und der brennende Schmerz an seiner Schädeldecke.

Wenige Tage später war er bereit zum Aufbruch. Er hatte zunächst noch der Ankunft des neuen Königs, Erik I, beigewohnt, der seine traditionelle erste Rundreise in Norderstett mit einem Marsch zum Avis-Mark beendete.
Während der junge König sich also in die frostigen Weiten hinaus schlug, machte Biorn seine geliebte Seekrone wieder fahrtüchtig. Er nahm den Händler an Bord, der lediglich einen Seesack – genau wie Biorn selber – mit sich führte und sich im Verlauf der Reise als angenehmer Zeitgenosse entpuppte. Er hieß Kalle und war eher eine Art Zwischenhändler, der gerade eine Verhandlung in Norderstett geführt hatte und in Fjordenport seinen Auftraggeber unterrichten musste.
Die Iisschenk umfuhr er großzügig – und er nahm sich vor, allen Flussschiffern Kaltbergens von ihr abzuraten – und kam nach einer angenehmen Fahrt zunächst in Iisport an, wo er gemeinsam mit Kalle die Vorzüge der Königsstadt genoss. Nach zwei glücklich durchzechten Nächten setzten sie dann auf den Fjordsfleet über und schossen mit dem klaren Wasser in Richtung Fjordenport. Der Heimat, aus der Biorn vor einer scheinbaren Ewigkeit aufgebrochen war.
Bei dem Gedanken an seine kleine Stube bei Ivanna und die abendlichen Geschichten im Salzfass wurde ihm warm ums Herz, doch mulmig zu Mute: Er hatte den Wind des Abenteurerlebens geschnuppert und konnte nun nicht einfach zurück in sein einfaches Fischerleben.

Er kehrte trotz alledem kurz wieder bei Ivanna ein und besuchte Freunde und Familie in Fjordenport. Einen kurzen Brief an Ramesh, dem er das kostbare Leder beilegte, ließ er Varkan verfassen. Doch als für Kalle die Zeit kam, weiter zu reisen, bot Biorn an, wieder gemeinsam zu reisen und so begaben sie sich erneut in die Wildnis Kaltbergens. Dies war nun seine Heimat geworden und es kribbelte in seinen Fingern, als sie Segel in Richtung Osten setzten.

[Fin.]